Wir sehen uns gerade mit einer großen Krise konfrontiert und für viele von uns dürfte das auch das erste Mal in unserem Leben sein, dass unser gewohnter Alltag sich so stark verändert. Was genau die Auswirkungen auf unsere Gesellschaft und auf jeden von uns als Individuum sein werden, lässt sich im Moment noch nicht sagen.
In der Geschichte der Menschheit gab es aber schon einige solcher gesellschaftlicher Krisen, die teilweise bedeutend schwerer und traumatisierender waren. Zwei klassische Beispiele, was jedem vermutlich direkt in den Sinn kommen dürfte, sind der Erste und Zweite Weltkrieg. Wenn wir uns diese Ereignisse anschauen, können wir viel darüber lernen, wie wir als Menschen auf extrem belastende Umstände reagieren.
Ein Forscher, der sich in den 70er Jahren mit den psychischen Auswirkungen des Holocausts beschäftigte, war Aaron Antonovsky. Er und sein Forscherteam untersuchten die physische und psychische Gesundheit von weiblichen ehemaligen KZ-Insassen, d.h. sie führten mit ihnen Interviews durch, machten medizinische Tests usw. Natürlich erwarteten sie, dass sie die fatalen Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs in ihren Daten sehen würden und diese Frauen körperlich und geistig traumatisiert wären.
Ein erstaunliches Ergebnis
Was glaubst Du, wie viele der untersuchten ehemaligen KZ-Insassen mit psychischen und/oder körperlichen Problemen als Folge ihrer Inhaftierung zu kämpfen hatten?
In Antonovskys Studien belief sich der Anteil auf ca. 70%.
Antonovsky schaute sich diese Zahl an. Und er dachte sich: „Moment mal. Nur 70%?!“ Das bedeutete ja, dass 3 von 10 Frauen sich ihrer psychischen und körperlichen Gesundheit erfreuten. Frauen, die in ihren jungen Jahren traumatische Erlebnisse gehabt hatten, die gefoltert wurden, gute Freunde hatten sterben sehen und extremen Belastungen ausgesetzt waren.
Dieses erstaunliche Ergebnis regt Antonovsky dazu an, mehr über die Frage nachzudenken, was eigentlich generell Gesundheit entstehen lässt. Die Studie mit den KZ-Insassen hatte für ihn bewiesen, dass es nicht nur externe Umstände sein konnten, sondern eher die Bewältigung dieser inneren und äußeren Anforderungen den großen Unterschied macht. Antonovsky widmete den Rest seiner Lebenszeit der Erforschung der Ursache für die Entstehung (griech. „genesis“) von Gesundheit (lat. „salus“). Diese Frage der „Salutogenese“ war eine völlig neue Perspektive innerhalb der Medizin, weil man sich bisher eigentlich immer nur mit den Ursachen und der Entstehung von Krankheiten (= „Pathogenese“) beschäftigt hatte.
Wie entsteht Gesundheit?
Antonovskys Studien führten ihn zu der Annahme, dass gesunde Menschen eine charakteristische Grundorientierung haben, mit der sie den Anforderungen des Lebens begegnen. Sie haben ein Gefühl, dass ihr Leben und ihre Umgebung verstehbar und vorhersagbar sind (Verstehbarkeit), dass sie mit den Anforderungen des Lebens umgehen können (Handhabbarkeit) und diese Herausforderungen „die Mühe wert“ und sinnvoll sind (Bedeutsamkeit). Sind diese drei Bedingungen erfüllt – Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit – haben wir laut Antonovsky einen ausgeprägten Sinn von Kohärenz. Dieser „Kohärenzsinn“ war für ihn die Voraussetzung für die Entstehung von Gesundheit.
Wieso fragst Du Dich?
Antonovsky begründet das so: Seine Grundannahme ist, dass wir in unserem Leben jeden Tag etlichen Stressoren ausgesetzt sind. Der Wecker klingelt und reißt uns aus dem Schlaf. Schon bevor wir am Schreibtisch sitzen poppen die ersten Mails auf unserem Smartphone auf. Überall flimmern Werbebanner und buhlen um unsere Aufmerksamkeit. Es ist schon ein kleines Wunder, dass wir in diesem Strudel von Eindrücken überhaupt eine Orientierung finden.
Wenn jetzt noch eine globale Pandemie dazu kommt und wir von allen Seiten mit negativen Schlagzeilen konfrontiert werden und wir unsere Routinen verlieren, dann ist selbst unser Supercomputer von Gehirn schnell überfordert. Dieser Zustand von Chaos erzeugt Spannung und wird als Stress erlebt, der langfristig zur Entstehung von Krankheit führt.
Das psychische Immunsystem
Genau dieser Anspannung können wir entgegenwirken, wenn wir einen starken Kohärenzsinn entwickelt haben. Durch die Verstehbarkeit nehmen wir das Leben als geordnet und verständlich war. Das bedeutet nicht, dass wir jedes schreckliche Ereignis als wünschenswert betrachten, aber wir können diese Dinge zumindest zu einem gewissen Grad erklären und in einen größeren Zusammenhang stellen. Die Handhabbarkeit ist das Gefühl, unser Leben beeinflussen zu können und die nötigen Ressourcen zur Verfügung zu haben, um mit Herausforderungen umzugehen. Die letzte Komponente ist das Erleben von Bedeutsamkeit. Menschen mit dieser Orientierung denken, dass das Leben „die Mühe wert ist“, dass es sinnvoll ist und Freude macht. Sie haben Ziele und Projekte, die sie motivieren und für die es sich zu engagieren lohnt.
Ausgerüstet mit diesen drei Komponenten kannst Du in dem Dschungel des Lebens wieder Orientierung finden, Du wirst widerstandsfähiger gegen Stressoren und es entsteht Gesundheit. Man könnte sagen, dass Du ein stärkeres „psychologisches Immunsystem“ entwickelt hast. Genau wie beim körperlichen Immunsystem bedeutet das natürlich nicht, dass Du nie krank wirst. Sondern Du wirst generell seltener krank und erholst Dich wieder schneller, falls es Dich doch mal erwischt.
Sinn – eine wichtige Voraussetzung für unser Wohlbefinden
Ein fitteres Immunsystem können wir gerade sicherlich alle gebrauchen. Heutzutage erleben zum Glück die wenigsten von uns vergleichbare Belastungen wie die Studienteilnehmenden von Antonovsky. Doch auch Krisen wie die Corona-Pandemie oder auch schon unser ganz normaler hektischer Alltag können uns verunsichern, anstrengen und überfordern. Doch empfinden wir in unserem Leben einen ausgeprägten (Kohärenz-)Sinn, kann es all das trotzdem wert sein. Oder wie Nietzsche einst sagte:
„Hat man sein WARUM des Lebens, so verträgt man sich mit fast jedem WIE.“
Dieser Auffassung war auch Martin Seligman, weshalb er die Sinn-Komponente als einen wesentlichen Bestandteil in sein PERMA-Model integrierte. Hier findest Du heraus, welche Komponenten außerdem im Modell enthalten sind. In unserem nächsten und damit letzten Artikel der Reihe zum PERMA-Modell werden wir uns noch der Accomplishment-Komponente widmen.