Weiß und blau. In diese zwei Farben teilt sich die Realität des Mannes in diesem Moment. Um ihn herum und über ihm nur der strahlend blaue, wolkenlose Himmel. Unter ihm nichts als eine weiße, schneebedeckte Berglandschaft. Das Herz schlägt ihm bis zum Hals als er den Abgrund vor sich hinunterblickt. Er ist schon viele Pisten in seinem Leben gefahren. Doch dieser steile Abhang stellt eine neue Herausforderung an seine Fähigkeiten, seinen Mut und sein Selbstvertrauen – er ist sein persönlicher Mount Everest. Der Mann schließt die Augen und nimmt einen tiefen Atemzug. Durch die Nase ein, durch den Mund aus. Dann öffnet er die Augen, lehnt sich in die Steigung und wagt den Sprung aus seiner Komfortzone.
Ab jetzt gibt es kein Zurück mehr. Er muss mit seiner vollen Aufmerksamkeit auf die weiße Schneelandschaft vor ihm konzentriert sein. Jede kleine Unebenheit auf der Strecke unter seinen Skiern muss mit kleinen Mikrobewegungen ausgeglichen werden. Durchgängig muss er die nächsten Meter nach Hindernissen abscannen und ihnen innerhalb von Sekunden ausweichen. Gleichzeitig muss er eine halbwegs regelmäßigen Rhythmus zwischen Schwüngen nach Links und Rechts finden, um auf dem sicheren Pfad zu bleiben.
Als der Mann im Tal ankommt, wird sein Körper von Endorphinen durchflutet und er stößt einen Schrei der Begeisterung und Vitalität aus. Er schaut auf seine Uhr und kann nicht fassen, dass die Abfahrt 45 Minuten gedauert hat – es kam ihm vor wie 5 Minuten. Alle Gedanken und Sorgen, die er sich vorher gemacht hat, sind während der Abfahrt wie weggefegt gewesen. Er war nur voll auf den Moment konzentriert und ist voll in seiner Tätigkeit aufgegangen. Die Strecke hatte dabei genau das richtige Anspruchslevel für ihn. Etwas schwieriger und der Mann hätte an einem gewissen Punkt eventuell die Kontrolle verloren und wäre in Panik geraten. Aber wäre die Strecke zu leicht gewesen, hätte er sich während der Abfahrt nur gelangweilt und die Erfahrung wäre nicht halb so anregend und vitalisierend gewesen.
Voll im Flow
Wir alle kennen diese Erfahrungen, wo uns eine Tätigkeit oder auch eine plötzliche Herausforderung voll vereinnahmt und unsere gesamten geistigen Ressourcen erfordert, um mit der Situation umgehen zu können. Der Psychologe mit dem unaussprechbaren Namen Mihály Csíkszentmihályi beschrieb dieses Phänomen in den 90er Jahren erstmals und prägte den Begriff der „Flow“-Erfahrung. Zu Beginn konzentrierte sich seine Forschung auf Individuen mit besonderen Eigenschaften oder Fähigkeiten, wie der oben erwähnte Skifahrer, Bergsteigerinnen, Dirigenten oder Tänzerinnen. Mit der Zeit erweiterte er seine Untersuchungen aber auch auf die breite Bevölkerung.
Wie sich herausstellte, erleben wir alle in unserem Alltag von Zeit zu Zeit diese besondere Erfahrung. Und nicht nur das. Wie Csíkszentmihályis Forschungen zeigten, sind diese Flow-Erfahrungen ein elementarer Bestandteil eines erfüllten und aktiven Lebens und gehen einher mit positiven Konsequenzen wie einer gesteigerten Leistung und Arbeitszufriedenheit sowie einem höheren Arbeitsengagement und allgemeinem Wohlbefinden. Deshalb nannte Csíkszentmihályi Flow-Erfahrungen auch „optimale Erfahrungen“. Und das ist auch der Grund, wieso sie in dem PERMA-Modell von Martin Seligman unter der Engagement-Komponente berücksichtigt werden.
Wenn wir im Flow sind, sind wir so in eine Tätigkeit vertieft, dass wir uns unser selbst gar nicht mehr bewusst sind. Erst im Nachhinein, wenn unser Bewusstsein wieder langsam bei uns selbst und unseren Emotionen und Empfindungen ankommt, merken wir, wie erfüllend und befriedigend diese Erfahrung gerade war. Dann würden wir am liebsten direkt wieder an die Grenze unserer Komfortzone gehen und erneut in den Flow eintauchen.
Zwischen Langeweile und Angst
Aus diesem Grund ist die Flow-Erfahrung für uns als Menschen so wertvoll. Sie bewegt uns dazu, physisch und mental an unsere Grenzen zu gehen und über uns hinauszuwachsen. Denn wie Csíkszentmihályi feststellte, entstehen Flow-Erfahrungen vor allem dann, wenn die Anforderungen unserer Umwelt mit unseren Fähigkeiten übereinstimmen oder diese sogar leicht übersteigen. Die Flow-Erfahrung finden wir in der goldenen Mitte zwischen Überforderung und Unterforderung. Dieser Umstand wird häufig mit dem sogennanten Flow-Kanal dargestellt:
Schau Dir einmal das Koordinatensystem oben an! Auf der einen Achse sind deine Fähigkeiten abgebildet, auf der anderen Seite die Anforderungen, die deine Umwelt an Dich richtet. Deine Fähigkeiten könnten z.B. deine Skifahr-Technik sein oder wie sicher Du Dich bei einer Abfahrt fühlst. Bei den Anforderungen könnte man z.B. zwischen blauen, roten und schwarzen Pisten unterscheiden.
Wenn du einen mehrwöchigen Skiurlaub verbringst, dann wirst du dich über die Zeit des Urlaubs auf beiden Achsen immer mehr von der Mitte des Koordinatensystems, wo Deine Fähigkeiten und die Anforderungen an Dich niedrig sind, hin zu dem äußeren Rand bewegen, wo sehr hohe Anforderungen an Dich gestellt werden, Deine Fähigkeiten aber ebenfalls sehr ausgeprägt sind.
Du wirst Dich also im Laufe des Urlaubs an immer anspruchsvollere Pisten wagen und vielleicht sogar irgendwann die schwarze Piste runterfahren. Gleichzeitig werden sich mit der Zeit aber auch Deine Fähigkeiten immer weiter steigern. So entwickelst Du mit jeder anspruchsvolleren Piste, auf die Du Dich traust, auch eine immer bessere Technik, sammelst wertvolle Erfahrungen und wirst auf Deinen Skiern immer sicherer.
Stetiges Wachstum
Das ist es, was die Flow-Erfahrung so wertvoll macht. Und das ist auch mit ein Grund dafür, dass wir sie als zutiefst belohnend und vitalisierend empfinden. Die Momente, in denen wir voll in den Flow eintauchen sind die Momente, in denen wir uns als Mensch am stärksten weiterentwickeln. Durch sie erweitern wir unser Fähigkeitsspektrum. Durch sie lernen wir, die Welt auf eine komplexere und umfassendere Weise zu begreifen. Durch sie werden wir zur besten Version unserer selbst. Und das ist es, wonach wir uns insgeheim alle sehnen.
Wie kommt es dann, dass wir nicht alle ständig diese Flow-Erfahrungen erleben? Nun, wie du bereits oben gelesen hast, erfordert die Flow-Erfahrung, dass wir uns zumindest an den Rand unser Komfortzone wagen – wenn nicht sogar leicht darüber hinaus. Das kann für viele Menschen erst einmal furchteinflößend sein. Wenn wir das erste Mal vor dem Hang einer schwarzen Piste stehen und in den Abgrund vor uns schauen, schlottern den meisten ein wenig die Knie. Doch wenn wir unsere Fähigkeiten richtig eingeschätzt haben und diese mit den Ansprüchen der Piste im Einklang stehen, werden wir, sobald wir uns in den Hang hineinlegen, diese Ängste schnell hinter uns gelassen haben und zu neuer Höchstform auflaufen.
Die Flow-Erfahrung erfordert von uns also eine gewisse Haltung, einen gewissen Mut und die Bereitschaft, Verantwortung für unsere Situation zu übernehmen und auf uns selbst zu Vertrauen. Wenn du all diese Dinge aber bereit bist, einzusetzen, dann kannst du voll in den Flow eintauchen – und letztendlich vielleicht die beste Abfahrt Deines Lebens erfahren.
Dieser Artikel ist Teil unserer Artikelreihe zum PERMA-Modell von Martin Seligman. Wenn Du wissen möchtest, was es mit den restlichen 3 Komponenten des Modells auf sich hat, dann trag Dich am besten direkt in unseren Newsletter ein. Im kommenden Artikel werden wir uns dann der Relationship-Komponente (also den erfüllenden Beziehungen) widmen.