Stellen Sie sich vor, eines Tages taucht ein magischer Dschinn vor Ihnen auf und bietet Ihnen an, Sie in einen Superhelden zu verwandeln. Sie müssen sich allerdings entscheiden, was für ein Held Sie sein wollen. Der Dschinn gibt Ihnen die Wahl zwischen zwei Capes, die Sie anlegen können:
Als Superheld mit einem roten Cape sind Sie der klassische Superheld, wie wir ihn aus Comics und Filmen kennen: Sie bekämpfen Armut und Ungerechtigkeit, bewahren Flugzeuge vor dem Absturz und retten Hundewelpen aus brennenden Häusern. Kurzum: Sie haben die Fähigkeit, alles Negative auf der Welt zu lindern. Allerdings sind Sie als Superheld mit einem roten Cape nicht in der Lage, Positives in die Welt zu bringen.
Entscheiden Sie sich dagegen für ein grünes Cape, dann können Sie die Welt auf alle erdenklichen Arten bereichern: Sie können neues Leben entstehen lassen, Liebe und Harmonie erzeugen oder Songs schreiben, die Menschen inspirieren und feiern lassen. Mit einem grünen Cape können Sie jedoch nichts gegen all das Übel in der Welt unternehmen.
Welche Art von Superheld würden Sie sein wollen?
Was denken Sie, welchen Superheld wir in unserer Gesellschaft heute dringender bräuchten? Ich hatte schon sehr interessante Diskussionen über das Thema, die aber meistens an demselben Punkt endeten: Beide Aspekte sind extrem wichtig, und wir können weder auf den einen, noch auf den anderen Superhelden verzichten.
Das Superhelden-Dilemma geht zurück auf einen Professor an der University of Pennsylvania namens James Pawelski. Der schlägt mit einem Augenzwinkern vor, ein umdrehbares Cape anzuziehen, das auf der einen Seite grün und auf der anderen Seite rot ist. Er stellt allerdings auch noch eine weitere interessante Frage in den Raum:
Welchen der beiden Superhelden würden Sie als „positiv“ bezeichnen?
Wenn es Ihnen wie mir geht, dann ist das zunächst einmal klar der grüne Superheld, wo er doch all das Positive in die Welt bringen kann. Bedeutet das allerdings im Umkehrschluss, dass der Superheld mit dem roten Cape negativ ist? Sie ahnen vielleicht schon, worauf ich mit diesem Beispiel hinaus möchte. Erzähle ich einem Freund von der Positiven Psychologie, dann werde ich häufig mit einem Stirnrunzeln gefragt:
„Positive Psychologie… Gibt es denn auch eine negative Psychologie?“
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir verstehen, was die Positive Psychologie eigentlich genau untersucht. Dazu stellen wir uns einmal das gesamte Spektrum des menschlichen Erlebens auf einer Skala von -10 bis +10 vor:
Am unteren Ende der Skala, z.B. bei einer –9, sind jene Menschen, denen es absolut miserabel geht, die an starken Depressionen und/oder Angststörungen leiden und sehr unglücklich sind. Auf dem oberen Ende der Skala nahe der +10, sind hingegen die Menschen anzusiedeln, die vollkommen glücklich sind in ihrem Leben, die tolle Freundschaften und Beziehungen pflegen und vor Lebensfreude sprühen.
Über viele Jahrzehnte, hat sich die klassische Psychologie stets darauf konzentriert, Menschen vom negativen Teil des Spektrums hin Richtung 0 zu bewegen. Insbesondere nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde viel Forschung betrieben und zahlreiche Therapeuten ausgebildet, um die vielen psychischen Störungen zu behandeln, an denen die Menschen in diesen Jahren litten. Hierbei erzielte man große Fortschritte in Theorie und Praxis. So ist es mittlerweile möglich, einen depressiven Patienten, der auf der Skala vielleicht bei –6 liegt, effektiv zu therapieren und ihn somit z.B. auf eine –2 oder sogar 0 zu bewegen.
Das ist der große Verdienst der klassischen (klinischen) Psychologie. Allerdings hat sie sich dabei fast ausschließlich nur auf diesen negativen Teil des Spektrums konzentriert. Unbeantwortet blieb lange die Frage, wie es denn eigentlich weitergeht, sobald man einen Patienten vollständig geheilt hat und somit auf der Skala bei 0 angekommen ist. Denn nur weil die Patienten jetzt frei von psychischen Symptomen leben, heißt das noch lange nicht, dass sie auch glücklich und zufrieden mit ihrem Leben sind.
Eine ganzheitliche Psychologie
Eine ganzheitliche Psychologie darf also nicht den gesamten positiven Bereich des Spektrums ignorieren, sondern muss sich Fragen stellen wie:
- Was zeichnet eigentlich sehr glückliche Menschen aus?
- Was macht den Unterschied zwischen einer Person, die einigermaßen glücklich ist und vielleicht bei einer +2 oder +3 anzuordnen ist, und einer Person bei +9 oder +10, deren Leben vollkommen erfüllt ist?
- Und wie kann man Menschen nicht nur raus aus dem „negativen“ Bereich, sondern auch noch viel weiter rein in den „positiven“ Bereich des Spektrums bewegen?
Und diese Themen muss sie mit genau der gleichen wissenschaftlichen Rigorosität und Genauigkeit untersuchen, mit der sie auch Therapien und klinische Interventionen auf ihre Wirksamkeit testet. Das erkannte auch der amerikanische Psychologe Martin Seligman und prägte Ende des letzten Jahrhunderts den Begriff der „Positiven Psychologie“: Ein Teilgebiet der Psychologie, dass sich mit genau dieser „positiven“ Seite des Lebens beschäftigt.
Könnte man nun also die klassische klinische Psychologie als „negative“ Psychologie bezeichnen, da sie sich dem negativen Teil der Skala widmet? Damit würde man ihr meiner Meinung nach Unrecht tun. Die klassische und Positive Psychologie stehen sich nämlich nicht gegenüber, sondern ergänzen sich gegenseitig und ergeben so gemeinsam eine ganzheitliche psychologische Forschung, die sich mit dem gesamten menschlichen Erleben beschäftigt. Und dabei verfolgen beide Teilbereiche letztendlich das gleiche Ziel: Das Leben der Menschen positiver zu machen. Die Positive Psychologie macht dies auf direktem Wege, indem sie mehr Positives im Menschen kultiviert (wie ein Superheld mit grünem Cape). Und die klassische Psychologie wählt den indirekten Weg, indem sie sich ein rotes Cape umwirft und das Negative aus dem Leben der Menschen entfernt. Denn Minus und Minus ergibt immer noch Plus.