Der Verlust des Jobs, ein Unfall, das Verlassen Werden durch den/die Partner:in oder gar eine Gewalterfahrung. Zu unser aller Leben zählen schwere, herausfordernde und manchmal traumatisierende Ereignisse. Lange Zeit wurden diese hauptsächlich als Belastung für Betroffene gesehen und so konzentrierten sich weite Teile von Therapie und Beratung darauf, die Folgen negativer Erfragungen zu mildern.
Rückblickend geben Menschen in Bezug auf einschneidende Lebensereignisse aber nicht ausschließlich negative Aspekte der Erfahrung an, sondern schildern immer häufiger, an ihnen auch gereift und gewachsen zu sein. Diese Beobachtung ist die Grundlage der Forschung, die sich mit dem “posttraumatischen Wachstum” beschäftigt. Heute gehen Forschende davon aus, dass uns Krisen und Leid rückblickend nicht per se verzweifeln lassen, sondern auch zu persönlichem Wachstum wie der Intensivierung von Beziehungen oder dem Erschließen neuer Möglichkeiten befähigen.
Der Begriff Trauma
Tod, Unfälle oder Trennungen. Es sind Schicksalsschläge wie diese, die wir bislang unter dem Oberbegriff “Trauma” zusammenfassen. Traumatische Lebensereignisse können aber auch viel “kleiner” ausfallen. Sie lassen sich definieren als das Gefühl, dass unser Alltag fundamental erschüttert wird. Und dies ist individuell höchst unterschiedlich. Der Autor und Meditations-Lehrer Cory Muscara spricht in seinem Buch “Stop missing your life” sogar von einem “Kindheits-Trauma”, welches wir alle in uns tragen. Wir dürfen uns also auch mit kleineren belastenden Ereignissen angesprochen fühlen.
Was ist posttraumatisches Wachstum?
Unter posttraumatischem Wachstum verstehen wir eine persönliche Entwicklung nach einschneidenden Lebensereignissen, die den Ausbau neuer Ressourcen oder Fähigkeiten beinhaltet. Ein klassisches Beispiel ist das Verlassenwerden vom Partner. Im akuten Moment überwiegen selbstverständlich Schmerz, Trauer oder auch Wut. Schauen Menschen einige Zeit später auf so eine Veränderung zurück, gelingt es ihnen aber häufig, auch etwas Gutes daran zu finden. In unserem Beispiel könnte das eine neue Partnerschaft sein, welche sich stimmiger anfühlt oder auch das Stärken von Selbstvertrauen.
Die Wissenschaft geht davon aus, dass wir auf verschiedene Arten auf traumatische Ereignisse reagieren können. Das posttraumatische Wachstum unterscheidet sich von der reinen Erholung, da wir unser vollständiges Wohlbefinden und unsere psychische Gesundheit nicht nur wieder herstellen, sondern darüber hinaus persönliches Wachstum erleben. Wir gehen also, wie der Volksmund sagt, “gestärkt aus einer Krise” hervor.
“Was uns nicht umbringt, macht uns stark”. Das hat Friedrich Nietzsche einmal geäußert. Im Kontext des posttraumatischen Wachstums könnte man meinen, dass jede belastende Erfahrung persönliches Wachstum mit sich bringt. Dem ist aber ganz und gar nicht so. Wir können an belastenden Erfahrungen reifen, müssen es aber nicht. Wo also liegt der Unterschied? Die deutschen Wissenschaftler Dr. Michael Eid und Professor Dr. Judith Mangelsdorf drei Faktoren identifizieren, welche das posttraumatische Wachstum bedingen und fördern können:
Voraussetzungen 1: Positive Emotionen
Trauer, Wut, Scham oder Verzweiflung. Traumatische Erlebnisse lösen häufig eine ganze Reihe an negativen Empfindungen aus. Diese stellen einen wichtigen Teil der Verarbeitung dar. Häufig dauern sie jedoch so lange an, dass sie für Betroffene zur weiteren Belastung werden. Die US-amerikanische Psychologin Barbara Frederickson konnte belegen, dass wir drei positive Emotionen benötigen, um eine einzige negative Emotion auszugleichen. In einer weiteren Studie konnte sie belegen, dass das Vorhandensein positiver Emotionen das Erleben von posttraumatischem Wachstum vorhersagt.
Eine Möglichkeit, positive Emotionen aktiv zu fördern, ist das Führen eines Dankbarkeitstagebuchs. Die Effekte von “Journaling”, von regelmäßigem Tagebuch-Schreiben sind wissenschaftlich gut belegt. Hierzu kannst Du dich zum Beispiel jeden Abend bewusst fragen:
- Für welche 3 Dinge bin ich heute dankbar?
- Welche Gefühle haben sie in mir ausgelöst?
- Wie habe ich dazu beigetragen, dass mir diese positiven Dinge zugefallen sind? (Die Dimension der Selbstwirksamkeit. Diese Frage kann ergänzt werden, muss aber nicht.)
Achtung: Das Journaling ist keine gute Idee, wenn wir psychisch nicht stabil sind. Wer also mit Symptomen von Depression oder Ängsten zu kämpfen hat, darf diese Übung getrost auf einen späteren Zeitpunkt verschieben.
Voraussetzung 2: Soziale Unterstützung
“Freundschaft, das ist wie Heimat.” Das hat der Schritfsteller Kurt Tucholsky einmal gesagt. Und damit trifft er den Nagel auf den Punkt: Besonders in den Krisenzeiten unseres Lebens kann uns unser soziales Netz Halt und Orientierung geben. Hierfür ist es wichtig, dass wir uns auch trauen, uns “zuzumuten”- also unsere leidvollen Momente auch mitzuteilen. Andersherum kann es uns auch in Krisenzeiten stärken, für Andere zu sorgen- und somit unsere Selbstwirksamkeit, also das Gefühl, wertvoll und kompetent zu sein, zu stärken. Soziales Miteinander gilt in der Forschung als eine der zentralen Bewältigungsstrategien. Heißt also: um mit schwierigen Situationen und Phasen umgehen zu können, brauchen wir das Miteinander mit Freunden und Familie. Und hier kommt die Challenge dazu: schreibe heute einer Person, die dir nahe ist, eine Nachricht oder überrasche sie mit einem kurzen Anruf. Erzähl ihr von deinem Tag und wie es dir geht- authentisch und ehrlich. Nimm dir danach einen kurzen Moment zum Innehalten und frage dich: Wie geht es mir jetzt?
Voraussetzung 3: Das Schöpfen von Sinn
“Und wofür war es gut?” Das ist die Frage, die Probanden dazu befähigte, im Rückblick sinnstiftende Elemente in ihrer traumatischen Erfahrung zu erkennen. Das können neu erlernte Fähigkeiten sein, genauso wie eine Veränderung der Haltung, zum Beispiel mehr Wertschätzung für Angehörige oder Dankbarkeit für eine neu gefundene Arbeitsstelle. Achtung: hier ist Fingerspitzengefühl gefragt. Häufig spielt das richtige Timing hier eine zentrale Rolle. Denn wir alle können uns vorstellen, dass die Sinn-Dimension zeitlich gebunden ist und im akuten Kontext von persönlichem Leid nicht wahrgenommen werden kann.
Reflexionsfragen zum Thema Sinn:
- Aus heutiger Sicht: Was war gut daran?
- Was habe ich gelernt?
- Wie kann ich das, was ich gelernt habe, für Andere nutzbar machen?
Fazit
Posttraumatisches Wachstum ist übrigens gar nicht so selten. “Laut aktueller Studienlage erleben etwa 30 Prozent derer, die ein Trauma erfahren, ein inneres Wachstum danach” erklärt Hansjörg Znoj, Psychologe am Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Bern. Richard G Tedeschi, welcher den Begriff des posttraumatischen Wachstums erstmals geprägt hat, geht sogar noch weiter. Er geht davon aus, dass 90 Prozent aller Trauma-Überlebenden mindestens einen Aspekt von posttraumatischem Wachstum erleben. Wachstum kann nämlich auf einer Vielzahl von Ebenen stattfinden: wir können einen höheren Selbstwert entwickeln, unser Sinnerleben stärken, Beziehungen intensivieren oder auch eine neue Wertschätzung des eigenen Lebens gewinnen.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass “aus dem Verlust ein Gewinn entsteht”. Das Bewusstsein, dass einschneidende negative Erlebnisse auch immer Wachstum hervorrufen können, kann also auch Trost spenden- sofern es uns gelingt, traumatische Ereignisse zu integrieren.
Quellen
Wer die Studien zum Thema nachlesen möchte oder sich intensiver mit posttraumatischem Wachstum beschäftigen möchte, findet hier weitere Anregungen:
Emmons, R. A., & McCullough, M. E. (2003). Counting blessings versus burdens: An experimental investigation of gratitude and subjective well-being in daily life. Journal of Personality and Social Psychology, 84, 377–389.
Fredrickson, B. L., Mancuso, R. A., Branigan, C., & Tugade, M. M. (2000). The undoing effect of positive emotions. Motivation and Emotion, 24, 237–258.
Fredrickson, B. L., Tugade, M., Waugh, C. E., & Larkin, G. R. (2003). What good are positive emotions in crises? A prospective study of resilience and emotions following the terrorist attacks on the United States on September 11th, 2001. Journal of Personality and Social Psychology, 84, 365–376. https://doi.org/10.1037/0022-3514.84.2.365.
Mangelsdorf, J. Posttraumatisches Wachstum. Z Psychodrama Soziom 19, 21–33 (2020). https://doi.org/10.1007/s11620-020-00525-5
Riolli, L., & Savicki, V. (2010). Coping effectiveness and coping diversity under traumatic stress. International Journal of Stress Management, 17(2), 97–113 https://doi.org/10.1037/a0018041