Es ist das Jahr 2002. Ein junger aufstrebender Wissenschaftler aus Harvard entscheidet sich, ein Seminar über ein Thema zu geben, das ihm sehr am Herzen liegt. Acht Studenten melden sich zu dem Kurs an, zwei davon brechen den Kurs nach einer Weile ab. Aber das Seminar ist kein gewöhnlicher Kurs und das Thema gibt es in keinem anderen Studiengangs-Curriculum. Das spricht sich herum. Im nächsten Jahr bietet der Wissenschaftler eine Vorlesung über das Thema an: dieses Mal schreiben sich 300 Studierende für den Kurs ein. Im Jahr darauf gibt er die Vorlesung erneut. Dieses Semester besuchen knapp 900 Studierende die Vorlesung, was sie zur größten Vorlesung an der Harvard University macht, größer als „Introduction to Economics“.
Jetzt werden auch die Medien auf den Kurs aufmerksam. Wer ist dieser Wissenschaftler? Wovon handelt die Vorlesung? Und wie kann es sein, dass die Studierenden einer der Top-Eliteuniversitäten Schlange stehen, um daran teilzunehmen?
Der Name dieses Wissenschaftlers ist Tal Ben-Shahar, der Titel seiner Vorlesung lautet:
„Positive Psychology 1504“
In den Folgejahren werden noch an vielen weiteren Universitäten Kurse über die Positive Psychologie gegeben, alle ähnlich erfolgreich und von Studierenden überrannt. Wieso? Weil die jungen Menschen erkannt haben: Hier gibt es zum ersten Mal eine Wissenschaft, die empirische Antworten auf die Frage aller Fragen gibt: Was macht Menschen glücklich?
Doch was macht diese Wissenschaft so besonders? Denn natürlich sind die Psychologen, die in dieser Teildisziplin forschen, nicht die ersten, die sich der Glücks-Frage annehmen. Schon vor 2500 Jahren zerbrachen sich Philosophen darüber den Kopf. Angefangen von Konfuzius und Lao Tzu im alten China bis hin zu Plato und Aristoteles in Griechenland vertraten diese frühen Denker unterschiedliche Vorstellungen davon, was ein glückliches Leben ausmacht. Parallel dazu entwickelten sich auch verschiedene Religionen wie der Buddhismus oder das Christentum, die wiederum ihre eigenen Ansichten eines sinnvollen Lebens vertraten. Diese Ideologien waren den Menschen über tausende von Jahren ein Kompass für das eigene Bestreben nach Glück.
Heutzutage muss man nicht mal mehr in die Kirche gehen, um Rat zu finden. Die Bibliotheken quellen über vor Selbsthilfe-Büchern, im Internet werden endlos Seminare, Vorträge und E-Books zu dem Thema angeboten. Der Markt der Persönlichkeitsentwicklung boomt – und das aus gutem Grund. Denn auch wenn diese Inhalte von vielen Menschen noch belächelt werden, haben sie schon vielen Menschen geholfen und damit auch durchaus ihre Daseins-Berechtigung.
Eine Lösung für alle?
Das Problem vieler Glücksratgeber ist, dass die darin enthaltenen Erkenntnisse nur subjektive Erfahrungen & Einsichten von Individuen darstellen. Wer einmal eine Methode gefunden hat, sich selbst zu verwirklich und seine Ziele zu erreichen, der meint, diese auf jeden anwenden und verallgemeinern zu können. Die von den Autoren vorgestellten Tipps und Lösungen mögen in ihrer Situation auch durchaus effektiv gewesen sein und so ist es nur verständlich, dass sie dieses Wissen nun mit anderen teilen wollen. Sie vergessen dabei allerdings, wie ungeheuer vielfältig die Menschen sind. Bei einer anderen Person und in einer anderen Situation können dieselben Ansätze keine oder sogar negative Veränderungen nach sich ziehen. Deshalb versprechen diese Ratgeber oft viel – liefern letztendlich aber wenig.
Und aus diesem Grund ist das Interesse jener Studierenden auch so groß, die es in die Vorlesung zur Positiven Psychologie zieht. Diese Wissenschaft gibt keine falschen Versprechungen. Sie versucht vielmehr allgemeingültige Regeln aufzustellen, die auf die größtmögliche Anzahl von Menschen anwendbar sind. Sie zeichnet auf empirischen Daten basierende Trends ab, welche Faktoren tendenziell zu einem höheren Wohlbefinden, geringeren Burnout-Raten, beruflichem Erfolg usw. führen. Sie kann Ansätze auf ihre Wirksamkeit untersuchen (und ins Reich der Ammenmärchen verdammen, wenn sie den wissenschaftlichen Standards nicht genügen).
Angewandtes Wissen
Doch auch diese Rigorosität und nüchterne Sachlichkeit hat ihren Preis. So gab es im Bereich der akademischen Wissenschaft auch schon vor der Entstehung der Positiven Psychologie zahlreiche Studien, die sich mit ähnlichen Inhalten beschäftigten. Die Forschung zu Themen wie Stress, Work-Life-Balance oder den Risikofaktoren von Depressionen hat einen reichen Schatz an fundiertem, empirisch belegtem Wissen geformt. Das Problem hierbei ist, dass nur sehr wenige Menschen auf diese wertvollen Erkenntnisse Zugriff haben bzw. überhaupt von deren Existenz wissen. Oder haben Sie schon einmal vom „Journal of Personality and Social Psychology“ gehört?
Nein?
Das ist eins des führenden Journals im Bereich der Psychologie. Hier werden monatlich die wichtigsten Erkenntnisse aus der Forschung präsentiert. Und doch liest kaum jemand außerhalb des wissenschaftlichen Berufsfeldes die dort beschriebenen Studien – abgesehen von den Müttern der Autoren vielleicht 😉
Während die Selbsthilfe-Bewegung also vielen Menschen teils widersprüchliche oder wenig hilfreiche Tipps gibt, verstauben die empirisch-fundierten Erkenntnisse oft in wissenschaftlichen Papern. Die Wissenschaftler und Praktiker der Positiven Psychologie standen deshalb vor der Aufgabe, die Rigorosität der akademischen Wissenschaft mit der Zugänglichkeit der Selbsthilfe-Bewegung zu vereinen. Aus diesem Grunde heißen Studiengänge aus dem Bereich der Positiven Psychologie auch meistens „Master of Applied (d.h. angewandter) Positive Psychology“.
Zwischen Elfenbeinturm und Alltagspsychologie
Durch die Bewegung, die seit der Begründung der Positiven Psychologie vor 20 Jahren entstanden ist, wurde der Forschung in diesen Gebieten eine nie zuvor dagewesene Aufmerksamkeit zuteil. So ist es dieser aufstrebenden Disziplin gelungen, eine Brücke zu schlagen zwischen dem Elfenbeinturm der Wissenschaft und dem Interesse der breiten Bevölkerung. Und genau das war auch das Ziel jener Vorlesung von Tal Ben-Shahar. In seinem Kurs lasen die Studierenden sehr wohl wissenschaftliche Paper – gleichzeitig regte Ben-Shahar sie aber auch immer wieder mit einzelnen Übungen, Reflektion usw. dazu an, die Prinzipien in ihrem eigenen Leben anzuwenden. Der bahnbrechende Erfolg seines Kurses zeigte, dass er damit einen wirklichen Unterschied in dem Leben der Teilnehmer machte – und ihre hohen Erwartungen erfüllte.