Hier ist eine Frage an Dich. Wenn Du diesen Artikel hier liest, dann stehen die Chancen nicht schlecht, dass Du schon einmal von der Positiven Psychologie gehört hast. Gleichermaßen scheinst Du Dich für psychologische Themen zu interessieren und bist jemand, der oder die sich gerne mit sich selbst beschäftigt und weiterentwickeln möchte.
Treffer? Gut.
Ich habe also eine Frage an Dich: Wann hast Du das erste Mal bewusst angefangen, Dich mit solchen Themen wie Glück, erfüllenden Beziehungen, persönlicher Weiterentwicklung und Erfolg zu beschäftigen? War es zu einem Zeitpunkt, an dem Du voll zufrieden mit Dir warst? Oder war es vielleicht eher an einem Zeitpunkt, an dem Du einen Mangel in einem dieser Bereiche empfunden hast? Nach einer schmerzlichen Trennung, einem beruflichen Rückschlag oder eine Krankheit etwa? Auch hier habe ich wieder eine Vermutung…
Die Schwächen- vs. Stärken-Orientierung
Die meisten Leute fangen an, sich mit Themen der persönlichen Weiterentwicklung zu beschäftigen, wenn sie bei sich ein Defizit oder eine Schwäche ausmachen. Dann kaufen sie sich schlaue Bücher oder besuchen Seminare, um in diesen Bereichen zu ihren Mitmenschen aufzuschließen und wieder das zu erreichen, was sie als „normal“ betrachten.
Diese Herangehensweise der Schwächen-Orientierung ist völlig normal. Tatsächlich bekommen wir sie schon in der Schule beigebracht, wo es viel mehr Angebote zum Nachhilfeunterricht gibt, zu dem die „schlechteren“ SchülerInnen verdonnert werden, als dass bei jeder und jedem individuell geschaut wird, welche Stärken er oder sie hat und wie diese gefördert werden können. Aus psychologischer Perspektive ist dieser Ansatz allerdings mit einigen Problemen behaftet.
Die Positive Psychologie erkannte schnell diese Nachteile der Schwächen-Orientierung und begann bereits früh damit, sich vermehrt mit dem Thema „Stärken“ auseinanderzusetzen. Und da es sich bei der Positiven Psychologie primär um eine angewandte Wissenschaft handelt, lassen sich aus dieser Forschung hervorragende Wege ableiten, wie wir uns unserer Stärken besser bewusst werden können, um diese gezielter einzusetzen und zu fördern. Genau diese Tools möchten wir Dir heute mitgeben.
Der Values-in-Action Test (VIA)
Um die Forschung zu Stärken zu systematisieren machten es sich die Pioniere der Positiven Psychologie, Martin Seligman und der mittlerweile verstorbene Christopher Peterson, zur Aufgabe, herauszufinden, welche Eigenschaften eigentlich kultur- und epochenübergreifen als Stärken bzw. Tugenden gesehen werden. Dazu durchforsteten sie alles an relevanter Literatur und Quellen, die sie auftreiben konnten. Buchstäblich ALLES.
Angefangen von religiösen Schriften wie der Bibel oder dem Koran, über Biographien von Persönlichkeiten wie Benjamin Franklin, über Pop-Songs bis hin zu fiktiven Pokémon-Charakteren oder den Residenzhallen von Hogwarts war wirklich alles dabei. Die folgenden Kategorien von Tugenden traten in ihren Recherchen dabei immer wieder auf:
- Weisheit
- Mut
- Menschlichkeit
- Gerechtigkeit
- Mäßigkeit
- Transzendenz
Diese unterteilen sich jeweils in drei bis fünf Charakterstärken, die quasi die psychologischen Prozesse oder Mechanismen sind, mit denen sich die Tugenden im Alltag manifestieren. Insgesamt ermittelten Seligman und Peterson damit eine Liste von 24 universell gültigen Charakterstärken.
Diese Liste gossen sie dann in einen empirisch validierten Fragebogen, den sogenannten Values-in-Action Test (kurz VIA). Füllt man diesen aus, so erhält man am Ende eine hierarchisch-geordnete Liste mit den persönlichen Kernstärken. Das bedeutet, dass Deine Liste alle Stärken beinhalten wird, weil Du all diese Stärken bereits in Dir trägst. Allerdings sind manche von Ihnen stärker ausgeprägt als andere, weshalb sie im Verhältnis zueinander geordnet werden.
Und das beste von allem: diesen Test gibt es online frei verfügbar. Wenn Du gerade die Zeit hast, dann nimm Dir doch am besten mal die paar Minuten, um etwas über Deine Charakterstärken zu erfahren:
https://www.viacharacter.org/survey/account/register
Finde Dein „wahres Ich“
Wenn Du den VIA-Test gemacht und Deine Stärken-Hierarchie ermittelt hast, dann kannst Du Dir im nächsten Schritt Deine Top 10 Stärken einmal auf ein Stück Papier schreiben. Schau Dir diese Liste jetzt einmal an und fühle in Dich hinein, welche Stärken davon wirklich mit dir resonieren. Um zu veranschaulichen, was ich damit meine, lies Dir doch mal das folgende (frei übersetze) Zitat von William James, dem Begründer der modernen Psychologie, durch:
„Die beste Art, den Charakter eines Menschen zu definieren, ist es jene mentalen und moralischen Zustände zu betrachten, durch die er sich am stärksten aktiv und lebendig fühlt. In diesen Momenten gibt es in ihm eine innere Stimme, die sagt: ‚Das ist mein wahres Ich!‘“
Frag Dich also: Wo und wann empfindest Du diese Momente? Welche Deiner Signaturstärken aus dem VIA-Test fühlt sich wie Dein „wahres Ich“ an? Was gibt Dir Energie und Motivation? Wann merkst Du, dass Du Dich weiterentwickelst und aufblühst?
Nutze diese Kriterien, um Deine drei Signaturstärken heraus zu kristallieren. Diese drei müssen natürlich nicht in Stein gemeißelt sein und können sich mit der Zeit ändern. Du kannst auch noch frei weitere Stärken ergänzen, wenn Du im Alltag eine an Dir feststellst. Genau darum geht es ja tatsächlich letzten Endes: Dass Du anfängst, die Stärkenbrille aufzuziehen und bei Dir selbst und Deinen Mitmenschen auf die Stärken zu achten.
Wende Deine Stärken im Alltag an!
Wenn Du Deine Signaturstärken ermittelt hast, kann Du im letzten Schritt dazu übergehen, Deine Stärken vermehrt in Deinem Alltag anzuwenden und sie auszubauen. Probiere es doch einmal für eine Woche aus!
Ist z.B. „Liebe zum Lernen“ eine Deiner Signaturstärken, dann nimm Dir diese Woche bewusst ein paar Stunden raus, um das Buch von deiner Leseliste abzuhaken, dass dich am meisten fasziniert. Wenn „Freundlichkeit“ deine Signaturstärke ist, dann mache nächste Woche jeden Tag einen Akt der Freundlichkeit, z.B. indem Du einer Kollegin einen Schokoriegel mitbringst. Die Möglichkeiten sind endlos. Schreib uns gerne Deine kreative Idee in die Kommentare, wie Du Deine Signaturstärke einsetzen möchtest!
Am Ende der Woche wirst Du sicherlich tolle Erfahrungen gemacht haben. Und vor allem wirst Du vermutlich bemerken, wie leicht und natürlich es sich anfühlt, Deine Umgebung und Mitmenschen mit Deinen natürlichen Stärken zu bereichern. Du wirst Dich in dieser Woche viel stärker entwickelt und viel glücklicher gewesen sein, als wenn Du Dich (wie vielleicht normalerweise) ausschließlich mit den Dingen beschäftigt hättest, die Dir noch nicht so leicht wie anderen fallen. Natürlich haben auch diese Dinge ihre Zeit. Aber uns allen würde es gut tun, vermehrt die Stärken in uns selbst und in anderen zu sehen.
Wir hoffen, dass Du Dir einen Ruck gibst und dieses spannende Projekt „Stärken-Orientierung“ für Dich auszuprobieren. Wir hoffen, dass Dir dieser Artikel erste Anregungen dazu gegeben hat und freuen uns, Deine Stärken-Storys zu lesen! Und wenn Du jetzt (aus einer positiven Perspektive heraus) noch mehr über die Positive Psychologie lernen möchtest, dann melde Dich gerne noch zu unserem Newsletter an!